Im Monat August 2015

Das Buch des Monats - Kommentiert von Michael Schneider

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Heinrich Michael Knechten

Der geistliche Vater  »So habt ihr doch nicht viele Väter« (1 Kor 4,15)

Studien zur russischen Spiritualität XV, 2015.ISBN 978 -3-89991-166-4

 

In dem vorliegenden Buch geht es um jenen besonderen Erfahrungsbereich russischer Spiritualität, in dem sich das geistliche Verständnis des orthodoxen Glaubens auf die ihm eigentümliche Weise zum Ausdruck bringt. Sie steht unter dem Wort von Mt 23,8-10: »Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen, denn einer ist euer Meister, ihr aber seid alle Brüder. Ihr sollt niemand euren Vater heißen auf Erden;

denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist. Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer, Christus.« Nur im abgeleiteten, bezogenen Sinn ist geistliche Vaterschaft möglich, eher indirekt als direkt, eher als Wegweisung denn als Leitung. Somit ist die geistliche Vaterschaft weniger eine Technik; sie ist vielmehr ein Dienst, ein brüderlicher Dienst. Dieser Dienst ist unersetzlich, denn unser Leben bedarf der Deutung durch einen anderen. Weil manches hinter Masken und Rollen verborgen ist, gibt es keine Ich-Begegnung ohne qualifizierte Du-Begegnung. Sich der eigenen Wahrheit stellen oder in Frage gestellt werden, das tut meist sehr weh und ist nicht immer leicht zu verkraften; doch Jesu Verheißung lautet auch hier: Die Wahrheit wird euch zur Freiheit führen.

 

Der geistliche Vater hat sich als ein Arzt der Seele zu erweisen In diesem Dienst nimmt er die Stellung ein, welche die Tradition den Schutzengeln zuspricht. Ausgeübt wird dieser Dienst in Ehrfurcht vor Gott und dem Nächsten, voller Achtung vor der Erfahrung und dem Erfassen des Nächsten, vor allem vor seinem eigenen Weg des Reifens und Wachsens vor Gott. Die wichtigste Tugend des geistlichen Vaters ist die Geduld und Sanftmut, denn voller Liebe läßt er dem anderen Raum, er selbst zu werden. Ohne ihn zu überfordern, darf dieser er selbst sein - mit seinen eigenen Wünschen, Vorstellungen und Sehnsüchten, aber auch mit seinen Grenzen und Schwachheiten; er darf sich sehen und zeigen, wie er ist, und erfährt sich gerade darin als angenommen. Die Tugend der Sanftmut veranschaulicht Evagrios an derGestalt des Mose, von dem er sagt: »Sage mir doch, warum hat die Schrift, als sie Moses preisen wollte, alle Wunderzeichen beiseite gelassen und einzig der Sanftmut gedacht? Denn sie sagt nicht, daß Moses Ägypten mit den zwölf Plagen züchtigte und das werte Volk aus ihm herausführte. Und sie sagt nicht, daß Moses als erster von Gott das Gesetz empfing und daß er die Einsichten der vergangenen Welten erlangte. Und sie sagt nicht, daß er mit dem Stab das Schilfmeer teilte und dem dürstenden Volk aus dem Felsen Wasser hervorquellen ließ. Sondern sie sagt, daß er ganz allein in der Wüste im Angesichte Gottes stand, als dieser Israel vernichten wollte, und bat, mit den Söhnen seines Volkes ausgelöscht zu werden. Menschenliebe und Verbrechen stellte er vor Gott hin, indem er sprach: 'Vergib ihnen, oder streiche mich aus dem Buch, das du geschrieben hast.' Dies sprach der Sanftmütige! Gott aber zog es vor, denen zu vergeben, die gesündigt hatten, anstatt dem Moses ein Unrecht zu tun.« Von der Tugend der Sanftmut spricht auch Jesus, indem er von sich selbst sagt: »Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen« (Mt 11,29). Der geistliche Vater setzt sich von den ihm

anvertrauten Menschen nicht ab, sondern sieht sich in ihren Dienst genommen; er mag nicht über sie urteilen, vielmehr wünscht er, mit allen gerettet zu werden. Symeon der Neue Theologe erzählt hierzu: »Ich sah einen, der sich so eifrig um das Heil seiner Brüder kümmerte und dieses wünschte, daß er sehr oft unter Tränen aus seiner ganzen Seele zu dem menschenfreundlichen Gott betete, entweder er möge auch sie retten oder auch ihn mit ihnen verurteilen. Das tat er, weil er in seiner Einstellung der Nachfolge Gottes gar nicht wollte, daß er gerettet werde,

wenn er dort von ihnen getrennt wäre.«

 

Der Autor legt die Grundzüge der geistlichen Vaterschaft dar an Starez Siluan, Aleksandr Viktoroviè El’èaninov, Aleksij Alekseeviè Meèev, Erzbischof Luka, aber auch in einer sehr profunden Studie zum Leben und Wirken des Archimandriten Sofronij Sacharov. In den Ausführungen finden sich auch neue und kaum bedachte Sichtweisen dieser Form geistlicher Begleitung.

 

Michael Schneider SJ, Frankfurt am Main