Madeleine Delbrêl

gesamten Text ausdrucken
Es stimmt: man kann nicht mehr beten »wie« ehedem, es sei denn, man wäre in einem Kloster oder in einer bestimmten außergewöhnlichen Lebenslage. - Doch folgt daraus keineswegs, dass man nicht mehr beten soll, nur anders wird man beten müssen, und dies anders gilt es zu entdecken.
dass ein allmächtiger Gott, der doch geliebt sein will, seinen Kindern eine Lebensart gäbe, in der sie ihn nicht lieben könnten, ist unausdenkbar. Der Fehler liegt bestimmt auf unserer Seite.

Es lässt sich unschwer ersehen, dass ein Christ, dessen Beruf nicht gestattet, eine Zeit für Gott allein »auszusparen«, sich zwangsläufig als unfähig zum Gebet betrachten müsste. - Aber...: Gott hätte sich nicht die Mühe genommen, uns zu erschaffen, wenn er zulassen wollte, dass wir ihm gegenüber keine Luft zum Atmen hätten. - Unsere Zeit gewährt uns bestimmte von Gott gegebene Atemzüge, wir brauchen sie bloß zu entdecken und zu tun. 
In unserem Leben sollten wir nicht nach den Räumen suchen, die einst ein christliches Leben für sich forderte. Was das Gebet angeht, so ist unser Raum rationiert: das Fehlende müssen Bohrungen ersetzen. Wo immer wir uns auch aufhalten mögen, Gott ist dort. Der nötige Raum, um ihn zu finden, ist der unserer Liebe, die von Gott nicht getrennt sein will, die ihm begegnen will. 
Christus selbst hat in der Einsamkeit gebetet und unter der Menge. - Wenn ein Christ weiß, dass er an bestimmten Orten beten soll - Jesus betete im Tempel -, so soll er auch wissen, dass er überall beten kann.
Die Sehnsucht macht das Gebet aus, und zwar gleichgültig wo. Jede Liebe trägt ihre Sehnsucht überall mit sich herum. 
Ohne Zeitaufwand gibt es kein lebendiges Gebet. Aber nicht die Zeitdauer verbürgt das Gebet, sondern der Wert der Zeit: was wir anderes damit anfangen könnten, und dieser Wert variiert. 
Gott schenkt uns jederzeit unsere Möglichkeit zu beten, aber diese entspricht nicht immer unseren Vorstellungen vom Gebet. Wir haben sicher die Zeit so zu beten, wie Gott will, dass wir beten; vielleicht fehlt sie uns bloß, um nach unserer Vorstellung zu beten. 

In das beschäftigste, umhergeworfenste Leben dringen doch, wie feiner Staub, leere Zeitteilchen ein. Sieht man sie - man sieht sie nicht immer -, so müsste man auf den Gedanken kommen, sie zusammenzulegen und dadurch ein Stück verwendbare Zeit zu gewinnen. Wenn wir behaupten, beten sei unmöglich, so müssen wir uns auf die Suche nach diesem Zeitstaub machen und ihn, so wie er ist, verwerten. 
Ohne Gebet werden wir Gott nie mit wirklicher Liebe lieben. Vielleicht werden wir seine Diener sein, seine Kämpfer, sogar seine Jünger, aber nicht liebende Kinder unseres Vaters, weder Freunde noch Geliebte Christi.
Heute ist Beten die größte Wohltat, die man der Welt erweisen kann.