Simone Weil

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Es ist nicht meine Angelegenheit, an mich zu denken. Meine Angelegenheit ist es, an Gott zu denken. Es ist Gottes Sache, an mich zu denken.

Ich habe mir als einzige Übung die Verpflichtung auferlegt, das Vaterunser jeden Morgen einmal mit unbedingter Aufmerksamkeit zu sprechen. Wenn meine Aufmerksamkeit unter dem Sprechen abirrt oder einschläft, und sei es auch nur im allergeringsten Grade, so fange ich wieder von vorne an, bis ich einmal eine völlig reine Aufmerksamkeit erreicht habe. Dann kommt es wohl mitunter vor, dass ich es aus reinem Vergnügen noch einmal von vorne aufsage, aber nur, wenn das Verlangen mich treibt. Die Kraft dieser Übung ist außerordentlich und überrascht mich jedes Mal, denn, obgleich ich sie jeden Tag erfahre, übertrifft sie jedes Mal meine Erwartung.
Man ist nur, was man sein will. Wer ordentlich schreibt, ist auch fähig, seiner Leidenschaften Herr zu werden.
Nicht wünschen, dass irgendeine unserer Erbärmlichkeiten verschwinde, sondern die Gnade erbitten, die sie verwandelt ... Versuchen, seinen Fehlern durch die Aufmerksamkeit abzuhelfen und nicht durch den Willen.
Wendet man die Aufmerksamkeit mit Liebe auf Gott, so werden gewisse Dinge unmöglich.
Die kostbarsten Güter dürfen nicht gesucht, sondern nur erwartet werden, denn der Mensch kann sie nicht aus eigenen Kräften finden. 
Der Held trägt eine Rüstung, der Heilige ist nackt. 
Die Leere, die unser Leben ausmacht, wird vom Menschen gerne verdeckt - durch die Sünde.
Die Liebe ist nicht Tröstung, sie ist Licht.
Alles dient. Etiam peccata.
Gott hat kein Wort, um zu seinem Geschöpf zu sagen: ich hasse dich.
Gott wartet wie ein Bettler, der reglos und schweigend vor jemandem steht, der ihm vielleicht ein Stück Brot geben wird. Die Zeit ist dieses Warten. Die Zeit ist das Warten Gottes, der um unsere Liebe bettelt.

Wer sein Leben (noch) in seinen Glauben an Gott setzt, kann seinen Glauben verlieren. Aber wer sein Leben in Gott selbst setzt, der wird ihn niemals verlieren.
Die unerhörte Größe des Christentums kommt daher, dass es nicht ein übernatürliches Heilmittel gegen das Leid sucht, sondern eine übernatürliche Verwendung des Leids.
Das Höchste ist nicht, das Höchste zu verstehen, sondern es zu tun.
Die Welt braucht Heilige mit Genie.

AUS EINER EUCHARISTISCHEN CHRISTUSVISION:
Liebe
Liebe bot mir Willkommen; doch meine Seele schrak zurück,
In Schuld des Staubes, Schuld der Sünde.
Sie aber, Liebe, flinken Augs merksarm, wie ich träg
Den Fuß kaum von der Schwelle setzte,
Drang näher an mich, zärtlich fragend,
Ob etwas mir zu mangeln schien.
Ein Gast, gab ich zur Antwort, würdig dieses Orts.
Und Liebe sprach: Du sollst es sein.
Ich, der des Undanks, der Ungüte voll? ach, lieber Freund,
Der nicht dich anzuschaun vermag.
Liebe ergriff mich bei der Hand und sagte lächelnd:
Wer schuf die Augen, wenn nicht ich? 
Zu wahr, Herr, aber ich verdarb sie nur; lass meine Schande
Dort hingehn, wo sie es verdient.
Und weißt du nicht, spricht Liebe, wer den Tadel auf sich nahm?
Dann will ich, lieber Freund, dir dienen.
Du musst, spricht Liebe, niedersitzen und mein Mahl genießen.
So setzte ich mich denn und aß.