2. Die geglückte Zeit

»Nimm dir Zeit und nicht das Leben!« Diese Äußerung, meist eher leicht dahingesprochen, hat einen tieferen Sinn. Wer sich keine Zeit nimmt, steht in der Gefahr, sich das Leben zu nehmen. 
Mit der Zeit hat unsere Zeit ihre liebe Not. Vieles geht heutzutage »im Reißwolf der Geschwindigkeit« unter. Es scheint ein Zeichen der Moderne zu sein, dass sie keine Zeit hat: »Dieses Rechnen mit der Zeit begann in dem Augenblick, da der Mensch plötzlich in die Un-Ruhe kam, dass er keine Zeit mehr hatte. Dieser Augenblick ist der Beginn der Neuzeit.«[5]
Die Zeit gehört zu den kostbarsten Gütern unseres Lebens. Deshalb ist es nicht zu verwundern, dass der Umgang mit der Zeit zu den Hauptthemen in der modernen Literatur gehört. Dies sei an zwei Beispielen belegt, nämlich an Umberto Eco, der nach einer Neudefinition der Zeit sucht, und am Werk Peter Handkes, der nach der geglückten Zeit fragt.

 

Umberto Eco bezeichnet sein viel beachtetes, auch verfilmtes Werk »Der Name der Rose«[4] als einen »idealen postmodernen Roman«. Durch Aneinanderreihung von Versatzstücken und in einem spielerischen, eher ironischen Umgang mit vorhandenen Mythen und Traditionen werden überkommene Sätze und Vorstellungen durchgespielt.[6] Umberto Eco beschreibt in seinem Roman die Suche nach dem zweiten, verlorengegangenen Buch der Poetik des Aristoteles, das sich nach der erhabenen Tragödie nun der (vor allem niederen) Komödie zuwendet, um den Menschen schließlich zu einem kräftigen Lachen über die Welt und die Zeit zu bewegen. Gottes Schöpfung - nur ein einziges Gelächter?

 

Als Gott in Gelächter ausbrach, erschien das Licht, beim zweiten Gelächter erschien das Wasser, und als er lachte den siebenten Tag, erschien die Seele.

 

Aristoteles dreht in seiner Poetik die Funktion des Lachens um und erhebt sie zur Kunst: Das Lachen wird »zum Thema der Philosophie, zum Gegenstand einer perfiden Theologie«. Wer die Kunst des Lachens beherrscht, steht über allem, auch über der Zeit. Wer diese Kunst beherrscht, dem wird das Marginale »ins Zentrum springen, und die Mitte wäre verloren. Das Volk Gottes würde zu einer Versammlung von Monstern«. Wenn dem Menschen »die Kunst des Lächerlichmachens annehmbar würde und nobel erschiene, wenn eines Tages jemand sagen könnte (und dafür Gehör fände): Ich lache über die Inkarnation, hätten wir keine Waffen mehr, um diese Lästerung einzudämmen«. Der Mensch wäre endlich seines Gottes ledig und könnte unbeschwert leben, ohne Gewissen und ohne quälendes Bewusstsein von Schuld und Strafe. 
Peter Handke beschreibt in seiner 1979 einsetzenden »Heimkehr«-Prosa die »friedenstiftende Form« von Natur und Zeit. Anstatt sich dem »Gegrübel, ob Gott oder Nicht-Gott«, hinzugeben, weist er auf den mystischen »Schauder«, auf das österliche »Ich bin es« eines geheimnisvollen Gegenüber. Wer sich der Form annimmt und nicht chaotisch, formlos in den Tag lebt, begegnet »Gott« als dem »Großen Geist der Form«. Nicht Dürrenmatts »Durcheinandertal«[7], sondern der geformten Welt gilt die ganze Liebe und Aufmerksamkeit Handkes.

 

Form ergibt sich vor allem durch rechten Gebrauch der Zeit. Im »Nachmittag eines Schriftstellers« ist zu lesen: »was üblich 'im Stand der Gnade' genannt wurde, sollte vielleicht 'im Stand des Zeithabens' heißen.«[8] Dazu bedarf es der leisen »Heimkehr« des einzelnen durch meditative Heilssuche. Mit seinem »Versuch über die Müdigkeit« widerspricht Handke dem hektischen Aktivismus der Zeit: In der Müdigkeit des heutigen Menschen zeigt sich seine innere Spaltung und Zerrissenheit. Sie lässt sich nicht rein äußerlich heilen, denn sie hat ihren Grund darin, dass die innere Sinnmitte menschlichen Daseins leer geblieben ist. Was man früher schnell als »eine Auswirkung der Erbsünde« bezeichnet hat, bleibt heute offen und ohne rechten Namen. Wer diese Offenheit anerkennt und annimmt, dem kann diese Erfahrung zu einer großen »Gnade« werden. Die Müdigkeit nämlich, die der Mensch unentwegt in seinem Leben erfährt, lehrt ihn das Hungern.

 

Die »Gnade«, die dem Menschen in seiner Müdigkeit zuteil werden kann, liegt in einem neuen Verständnis und Umgang mit der Zeit. Nach christlichem Glaubensverständnis gibt es den erfüllten Augenblick erst in der »Ewigkeit«, was eine radikale Entweltlichung der Lebenseinstellung nach sich zieht, da die Erfüllung erst noch aussteht. Ganz anders die griechische Glücksvorstellung vom »kairos«. Sie kennt eine sinnliche Erfüllung im gegenwärtigen Augenblick. Mit der Aufklärung erfährt das westliche, eben christliche Zeitverständnis eine entscheidende Neuinterpretation, denn die Sehnsucht des Menschen richtet sich wieder »auf das Glücken je meiner Hiesigkeit, auf die einzige geglückte Lebenszeit«. Deshalb übersetzt Peter Handke die Aufforderung: »Carpe diem« mit den Worten: »Lass fruchten den Tag«. Wer den Tag mit seinen alltäglichen Vollzügen als eine Schule des Sehens, Schauens und Hörens erfährt und durchlebt, dem wird der Tag fruchten und zu einem neuen Raum des »Wohnens« werden. Der geglückte Tag ist der »gerettete« Tag. Nachdenklich heißt es: »Göttliches, oder du, jenes 'Mehr als ich', das einst 'durch die Propheten' sprach und danach 'durch den Sohn', sprichst du auch durch die Gegenwart, pur durch den Tag?«
In dem Augenblick, wo der Mensch Zeit findet, wandelt sich alles: »Ich hatte jetzt Zeit. Die Gegebenheiten und die Fragen rückten auseinander. Dieses Zeithaben war keine Empfindung, sondern die Lösung: die Lösung aller widersprüchlichen Empfindungen. Es hieß: Ungebundenheit und Hinwendung; Entwaffnung und Widerstandskraft; Ruhe und Unternehmungslust ... Mit dem Zeithaben zog das Rauschen über die Landschaft, die Farben strahlten aus, die Gräser erzitterten, die Moospolster wölbten sich.«[9]
Mit Rekurs auf den Römerbrief sagt Peter Handke: »Der den Tag denkt, denkt den Herrn«, und fragt: »Warum lässt sich das nicht, wie seinerzeit von 'dem Gott', von meinem heutigen Tag sagen?« Der geglückte, »gerettete« Tag ist keine Sache des Glaubens an Gott. Dieser kann und muss den Tag nicht retten, wohl aber der Schriftsteller, der ihn darstellt und beschreibt. Wer den »geglückten Tag« formt, ihn betrachtet und in seiner Tiefendimension beschreibt, begegnet ihm als dem »Herrn« seines Lebens und all seiner Träume und Wünsche.