3. Die Fülle der Zeit

Die »geglückte Zeit« heißt in der Sprache der Heiligen Schrift die »Fülle der Zeit«. Auf diese Zeit werden wir im Gottesdienst verwiesen, wenn es zu Beginn der Evangelienlesung heißt: »in jener Zeit«: Christus selbst führt in seinem Leben die Zeit zu ihrer Fülle.

 

a) Gottes Ewigkeit in der Zeit
Die Zeit Jesu ist die »Fülle der Zeit« (Gal 4,4), die »Heils-Zeit«. Mitten in der Zeit ist er die Fülle der Zeit, in der endgültig offenbart wird: Der ewige Gott hat Zeit für uns. Christus ist die Zeit, die sich Gott für uns Menschen nimmt. So ruft er die Gnadenzeit Gottes aus, die »Gnadenfrist« für den Menschen, und bezeugt Gottes Geduld: »Dass Gott Geduld hat, dass er sich Zeit für sein Geschöpf nimmt und diesem damit Raum und Zeit gewährt, das offenbart sich unüberbietbar in der Tatsache, dass in der Person des Menschen Jesus er, Gott selbst, erduldet und erlitten hat, was zu erdulden und zu erleiden nicht seine, sondern unsere Bestimmung [...] ist: den Tod.«[10] Durch seine Auferstehung und den Sieg über den Tod offenbart sich Jesus als der Herr der Zeit.
In Jesus hat Gott »Zeit für uns«. Gottes Zeit verläuft nicht neben unserem Alltag, sondern wird zum Inhalt unseres Lebens. 
Leben im Glauben an Christus heißt: Ewigkeit in der Zeit und als Zeit, absolute (göttliche) Ewigkeit in relativer (menschlicher) Zeit. So verläuft die Zeit zwischen »chronos« (Zeitablauf und Zeitdauer), »aion« (Zeit- und Weltalter) und »kairos« (das Heute). Der kairos ist die Zeit in rechtem Maß, denn das Maß ist überzeitlich, aber verwirklicht im innerzeitlichen Maß der Umstände.

 

Der Eintritt des Menschensohnes in die Zeit bedeutet die Erfüllung der »kairoi« des Alten Bundes, die in ihren Verheißungen auf den kairos der messianischen Wiederkunft verweisen. Bei Johannes spricht Christus von »meinem« kairos (Joh 7,5f). Der Satan, der »Archon und Gott dieses Weltalters« (Joh 14,30; 2 Kor 4,4), lässt nach den Versuchungen des Herrn in der Wüste von ihm ab - aber nur »bis zum kairos« (Lk 4,13). Diesen kairos sieht Christus mit seiner Passion gegeben: »Mein kairos ist nahe ... Ich bereite das Pascha mit meinen Jüngern!« (Mt 26,18). Der kairos, den Jesus als die »Fülle der Zeit« ankündigt, ist jedoch die Stunde des Kreuzes, die Erfahrung der »Anwesenheit Gottes« in seiner »Abwesenheit«. Mit der Auferstehung wird der kairos zum Zeitmaß neuen, ewigen Lebens, das stärker ist als die Zeit und der Tod. 
Um die in Christus neu eröffnete Zeit geht es dem Neuen Testament, wenn es an die Kostbarkeit der Zeit erinnert, in unserem Leben wach zu leben und die Zeit auszukaufen. Zeit haben ist für die Heilige Schrift keine Zeitfrage, sondern eine Glaubenssache. Die verrinnende Zeit erscheint fortan nicht mehr als etwas, das uns verbraucht und zerstört, sondern als etwas, das uns vollendet. So schreitet der Christ von Fest zu Fest, von Jahrestag zu Jahrestag, von Auferstehung zu Auferstehung. Mit der neuen Zeit in Christus gilt: »Der Mensch ist nach seiner ursprünglichen Natur nicht ein von der Zeit bedrängtes, sondern von ihr beschenktes Wesen.«[11]

 

Diese gläubige Botschaft von der Rettung der Zeit durch die Fülle der Zeit gibt dem Leben des Menschen eine neue Gelassenheit. Wie in aller Hetze eine Angst vor dem Tod und dem mit ihm gegebenen Loslassen liegt, weiß der Glaubende, dass er sich die Zeit nicht zu »retten« braucht, denn sie ist schon in die Ewigkeit hinein aufgehoben. Gewiss, gelegentlich hatte auch Jesus »nicht einmal mehr Zeit zum Essen« (Mk 6,31), dennoch nahm er sich immer wieder Zeit, um in der Stille der Nacht »auf einem Berg« zu beten (Mt 14,21 u.ö.).

 

b) Die gesegnete Zeit
Das Leben Jesu zeugt von einem erlösten Umgang mit der Zeit, der ihn sogar mitten im Sturm auf dem See schlafen lässt. Gläubiger Umgang mit der Zeit hat auch etwas mit dem Schlafen zu tun. Wir sagen: »Gute Nacht!« und »Guten Morgen!« Doch immer weniger Menschen kommen ohne Schlafmittel (»die kleine Narkose«) aus, und am nächsten Morgen gehen sie unausgeschlafen in den Tag. Warum machen wir uns so wenig Gedanken über den Verlust des ungestörten Schlafs? Wie schnell hat man sich an die Schwere und Freudlosigkeit beim Erwachen gewöhnt.

 

Der Schlaf ist Einübung ins Sterben, er ist der »kleine Bruder des Todes«. Zu einem »gesegneten Schlaf« findet nur jener, der sich fallen lassen kann in dem unbedingten Vertrauen, »von guten Mächten« umgeben zu sein. Hierzu bedarf es aber auch der allabendlichen Einübung in den Schlaf, bei der jeweils die praktischen Fragen des Alltags und die Probleme des vergangenen und kommenden Tages gewissenhaft und konsequent zu Ende gedacht und geregelt werden. Gerade die letzten Gedanken, Gefühle und Stimmungen, die in uns hochkommen, bevor wir ins Bett gehen, entscheiden, ob wir in einen erholsamen Schlaf finden und morgens ausgeschlafen aufstehen. Vieles kommt in der Nacht hoch, was am Tage nicht ins Bewusstsein gelangen konnte. Wäre es dann recht, einem solchen Anruf mit Rücksicht auf den guten Schlaf auszuweichen?! Es gibt eine Segensfülle der schlaflosen Stunden der Nacht. Der Morgen ist die Chance eines Neubeginns mit Gott: »Die Gott lieben, müssen sein, wie die Sonne aufgeht in ihrer Macht« (Ri 5,31). Die frühen Christen haben den Morgen und den Aufgang der Sonne mit ihrem Glanz als eine festliche Stunde erfahren, in der die Herrlichkeit des Herrn aufgeht. Jedes Aufwachen und Aufstehen war für sie eine Hindeutung auf die Wiedergeburt und Auferstehung: »Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.«

 

c) Die geistliche Zeit
Das dargelegte neue Zeitverständnis, das mit dem Glauben an Christus und das in ihm eröffnete neue Leben geschenkt ist, hat sich im gläubigen Umgang mit der Zeit, wie er sich in den Vollzügen des geistlichen Lebens und den einzelnen »Gebetszeiten« ausdrückt, entsprechend zu artikulieren. Augenblicklich will es scheinen, dass eine ganze Epoche geistlicher Tradition ihr Ende findet. Viele geistliche Begriffe und Vollzüge werden heute als obsolet empfunden. Häufige Beichte, abendliche Gewissenserforschung, tägliche Messe, Einhalten der kirchlichen Fastengebote, die drei täglichen Gebete, Sonntagsheiligung und vieles andere mehr ist nicht mehr in Übung, ja, es scheint schon abgeschafft zu sein. Nicht anders verhält es sich bei manchen anderen geistlichen Vollzügen, die früher - besonders in den Orden - wie selbstverständlich regelmäßig praktiziert wurden.

 

Als »spirituell« gilt immer weniger das Aufgebot religiöser und asketischer Leistungen, eine reich differenzierte religiöse Programmgestaltung des Tags und ein möglichst treues Ableisten religiöser Vorschriften und Ordnungen; erst recht wird heutzutage ein kontemplatives Leben im Sinn einer Vorliebe für das »Religiöse« und einer Vielzahl religiöser Gewohnheiten und Rhythmen abgelehnt. Das »geistliche Leben« bestimmt sich heute nicht mehr als ein Sonderbereich im Alltag oder als eine Ansammlung verschiedener Gebetszeiten, sondern als ein ganzheitliches Leben, als ein Leben aus der Ganzheit des Menschen (»aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüt«).[12] So wird in der Vielfalt der Formen, die das geistliche Leben in der gegenwärtigen Kirche annimmt, auch eine Neubestimmung des traditionellen Verständnisses im Einhalten der geistlichen Zeiten erkennbar. Wer als geistlicher Mensch leben möchte und seine Zeit recht ausnutzen will, wird sich um die Fähigkeit zu einem gläubigen Umgang mit der Wirklichkeit bemühen müssen. Geistliches Leben ist nach dieser Definition der Integrationspunkt der ganzen Glaubensexistenz eines Menschen. Wer gelernt hat, in allen Dingen der Wirklichkeit und seines Lebens die Spuren Gottes zu suchen und zu finden, darf als ein »geistlicher« Mensch gelten.
Daraus folgt für unsere Fragestellung, dass es im rechten Umgang mit der Zeit nicht nur darum gehen kann, dass wir am Tag unsere geistlichen Übungen und (Gebets-)Zeiten einhalten, sondern zunächst bedarf es der Fähigkeit, die ganze Zeit unseres Lebens als eine wahrhaft geistliche Zeit zu gestalten.