4. Die Lebenszeit

Aus der Feststellung, dass sich das geistliche Leben nicht auf geistliche Übungen beschränkt, sondern der Integrationspunkt des ganzen Lebensvollzugs im Glauben ist, ergibt sich ein wichtiger Hinweis für einen geistlichen Umgang mit der eigenen Lebenszeit. Es bedarf heute einer Art geistlicher Lebenspädagogik, die den einzelnen dazu anleitet, auf seinem Lebensweg in den verschiedenen Lebensaltern seinem Glauben gemäß in der Welt zu leben.

a) Der inwendige Lehrer
Gott tritt nicht von außen in die Lebenszeit des Menschen. Augustinus spricht vielmehr vom »inwendigen Lehrer«, der den einzelnen auf dem Grund seines Gewissens leitet: »So sollen wir nicht nur glauben, sondern auch zu verstehen beginnen, mit wie viel Recht uns die göttliche Autorität verboten hat, irgend jemand auf Erden unseren Lehrer zu nennen, da es doch nur einen einzigen Lehrer unter allen gibt, der im Himmel ist. Er selbst ist es, der uns belehrt, er, der uns durch die Menschen mit Hilfe äußerer Zeichen unterweist, damit wir, nach ihnen zu ihm zurückgekehrt, uns seine Lehren zu eigen machen.«[13] Dem inneren Meister entspricht der »innere Schüler«, den jeder in sich hat. Was der einzelne mit seiner Zeit zu tun, wie er in ihr zu leben hat, ist ihm ins Herz geschrieben, und dort hat er es zu suchen und zu entziffern.

Im Hören auf den »inwendigen Lehrer« lernt der einzelne, sein Leben dem Geist Jesu anzugleichen. Hierzu schreibt Romano Guardini: »In jedem Christen lebt Christus gleichsam sein Leben neu: er ist zuerst Kind und reift dann heran, bis er das volle Alter des mündigen Christen erreicht. Darin aber wächst er, dass der Glaube wächst, die Liebe erstarkt, der Christ sich immer klarer seines Christseins bewusst wird und mit immer größerer Tiefe und Verantwortung sein christliches Dasein lebt.«[14] Mit Bezug auf Eph 4,13 heißt es über das Heranreifen der Glaubenden zum Vollalter Christi: »Unerhörter Gedanke! Erträglich nur im Glauben, dass Christus wirklich der Inbegriff ist; und in der Liebe, die mit ihm eins werden will. Oder wäre der Gedanke, mit einem zusammengefügt zu sein - nicht nur verbunden im Leben und im Tun, sondern in eins gewachsen in Sein und Selbst - zu ertragen, falls er nicht als Jener geliebt würde, durch den ich mein eigentliches Ich finde, das des Kindes Gottes und mein eigentliches Du, nämlich den Vater?«[15] Der »alte Mensch« wird vom »neuen Menschen«, der »aus Christus gebildet« ist, überwunden, denn Christus will in der Lebenszeit eines jedem der Seinen einwohnen. 

b) Das innere Formgesetz
Die Stimme des Menschensohnes nimmt im Lauf der Zeit unterschiedliche Tönungen an. »Gut sollten wir«, mahnt Augustinus, »diese Stimme kennen lernen, diese glücklich singende, diese stöhnende, diese in Hoffnung aufjubelnde, in ihrem gegenwärtigen Zustand aber seufzende Stimme, gut sollten wir sie kennen lernen und sie zuinnerst vernehmen, um sie uns zu eigen zu machen.«[16] Hugo Rahner führt hierzu weiter aus: »Das in uns geborene Kind ist Jesus, der in denen, die ihn aufnehmen, auf unterschiedliche Weise heranwächst an Weisheit, Alter und Gnade. Denn er ist nicht in jedem der Gleiche. Nach dem Gnadenmaß dessen, in dem er Gestalt annimmt und nach der Fähigkeit des ihn Aufnehmenden erscheint er einmal als Kind, dann als Heranwachsender und schließlich als Vollendeter.«[17]

Das Leben Jesu ist das Formgesetz des menschlichen Lebens. In Eph 3,14-17 heißt es hierzu: auf »dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und dass ihr in der Liebe fest verwurzelt und gegründet seid«. Das hier ausgesprochene Formgesetz des Glaubens bringt dem Leben und der mit ihm gegebenen Zeit eine ungeahnte Innerlichkeit: »Jetzt erforschen wir nicht mehr die Himmelskreise oder messen die Zwischenräume der Sterne aus, noch bestimmen wir das Gewicht der Erde. Ich bin es vielmehr, der über sich nachdenkt, ich, der Menschengeist.«[18] An anderer Stelle heißt es: »Während ich in schweigender Betrachtung verharre, antwortest du mir, Herr, in meinem Innersten, indem du sagst: Sei dein eigen, dann bin auch ich dein eigen.«[19]
Die Kunst geistlichen Lebens besteht darin, auch die verschiedenen Lebensalter vom Formgesetz des Lebens Jesu durchdringen zu lassen. Wie dies zu geschehen hat, darüber gibt es bisher kaum konkrete Hinweise in der geistlichen Glaubenstradition der Kirche. Zunächst wäre zu bedenken, ob sich das Institut des Katechumenats und die damit verbundene Hinführung zum Glauben nicht auf den gesamten Lebensprozess im Glauben weiterführen ließe. Karl Rahner[20] kommt in einer Studie über den Prozess des Glaubenswegs zu herausfordernden Anfragen an die Glaubenspraxis. Am Beginn seiner Ausführungen steht die Feststellung, dass religiöse Übungen und Vollzüge in engem Zusammenhang mit den einzelnen Lebensphasen stehen. Im Leben lässt sich nicht alles durchgängig praktizieren: »Bestimmte religiöse Vollzüge haben in einer bestimmten Lebensphase ihren eigentlichen und richtigen Platz und in einer anderen nicht. Nicht alles Religiöse ist in jeder Lebensphase fällig, nicht alles kann in jeder Phase echt und ursprünglich vollzogen werden.« Dies soll keinem Subjektivismus das Wort reden, wohl aber darauf hinweisen, dass der Glaubensvollzug immer vom Lebensvollzug her erreichbar bleiben muss, sonst kommt es zu Ritualismus und äußerem Formalismus.

In der herkömmlichen Glaubensvermittlung und -praxis spielt das Alter des Menschen meistens kaum eine Rolle. »Dort, wo die Kinder im engeren Sinn aufhören, Kinder zu sein, fängt für das große Ganze der kirchlichen Menschenführung der Mensch und Christ an, immer als derselbe betrachtet zu werden.«[21] Wohl gibt es am Anfang des Glaubenswegs eine hinführende Begleitung und eine stufenweise Integration und Ausübung der einzelnen Glaubensvollzüge, ist aber die Zeit der Taufe oder Erstkommunion (und Firmung) erreicht, scheint es nicht anders möglich zu sein, als dass der Christ »alles« praktiziert, ohne Differenzierung und ohne weiteres Eingehen auf seine Bedürfnisse. Deshalb ist eigens nach der Bedeutung der verschiedenen Lebensalter für den Glaubensweg des einzelnen zu fragen.
Den einzelnen Lebenszeiten kommt seit der Menschwerdung des Gottessohns eine besondere Bedeutung zu.[22] Das göttliche Wort hat die Zeit angenommen, und alles in seinem irdischen Leben wird zu einer Offenbarung des Vaters und des menschlichen Daseins. Mit dem Kommen des Menschensohnes, den Jahren seines verborgenen und öffentlichen Lebens und in seinem Kreuzestod ist Gott für immer in die Geschichte des Menschen eingegangen, und mit der Auferstehung ist unsere Alltäglichkeit in die ewige Geschichte des dreifaltigen Lebens aufgenommen. Darin zeigt sich, dass seit der Menschwerdung des Gottessohns alles im Leben des Menschen »ewigkeitsfähig, weil immer schon ewigkeitshaltig«[23] ist.


c) Die Reifung in der Zeit
Ein solch gläubiges Zeitverständnis hat eine große Bedeutung für die Lebensalter des Menschen und die verschiedenen Erfahrungen, die mit ihnen verbunden sind. Weil das göttliche Wort sich auf vielfältige Weisen mitgeteilt und geoffenbart hat, kann es auch auf vielfältige Weise im Glauben und im Gebet wahrgenommen werden: nicht bloß in den großartigen, visionären Augenblicken des menschlichen Lebens, sondern auch in den ganz schlichten, alltäglichen Vollzügen. Das ganze menschliche Leben ist eine Sprache, in der Gott sich vollkommen ausdrücken kann, wie der Auferstandene auch alle Formen und Lebensalter des menschlichen Daseins mit in das Ewige hinein aufgenommen hat.[24]

Die bleibende Bedeutung der Menschheit des Gottessohns birgt ein wichtiges geistliches Gesetz in sich. Jedes Lebensalter kann zu einer Begegnung mit Gott werden, denn die einzelnen Phasen unseres Lebens haben etwas mit Gott und unserem Glauben zu tun; sie sind nicht nur biologische oder rein biographische Größen. In der gläubigen Ausdeutung der eigenen Lebensphasen ist entscheidend, dass der einzelne in jedem Lebensalter ganz gegenwärtig ist, dabei die vorhergehenden Stadien integriert und sie für ihre Weiterentfaltung in den kommenden Jahren offen hält. Der Mensch durchläuft in seinem Leben verschiedene Stadien: Säugling, Kind, Erwachsener und Greis. Dabei kann der Mensch nicht in zwei Altern zugleich sein, sondern bleibt in jedem Lebensalter voll und ganz er selbst. Auch Kindheit und Jugend sind keine bloß unvollkommene, halbe Verwirklichung des eigenen Menschseins. Gewiss, die Lebensalter haben Eigenschaften, die sich gegenseitig ausschließen, und doch wird der reife Mensch sich immer auch nach dem zurücksehnen, was er als Jugendlicher einmal gewesen ist und was er inzwischen vielleicht schon verloren hat oder was ihm nicht mehr zugänglich ist. Ferner stehen die Lebensalter nicht unverbunden nebeneinander, sondern entfalten sich kontinuierlich von einem Lebensjahr zum nächsten; es gibt im Leben des Menschen einen unumkehrbaren Fort-Schritt. Nur wenigen gelingt es aber restlos, die Jugend in das Erwachsensein und dieses in das Alter mitzunehmen.

d) Die innere Vollendung
Der Mensch gelangt im Fortschreiten seines Lebens dadurch immer mehr zur inneren Vollendung, dass er die vorhergehenden Stadien des Lebenswegs integriert und in sich aufnimmt. Dies lässt sich gerade an den Heiligen verdeutlichen, die in ihrem Leben immer jung geblieben sind. Was sie denken und leben, kommt aus einem jugendlichen Herzen. Dies hat den Jesuiten Jean-Joseph Surin dazu veranlasst, darüber nachzudenken, warum so viele ihren ersten Schwung im Laufe des Lebens verlieren. Was anfänglich an unmittelbaren Empfindungen, Tröstungen und Überraschungen in den ersten Anfängen des Lebens mit Gott von Bedeutung war, ist im Laufe der Jahre verloren gegangen. Es ist traurig, zu sehen, wie junge Menschen am Anfang ihres Weges in einem Priesterseminar oder einem Noviziat mit Eifer und Begeisterung beginnen, aber dann nach einigen Jahren sich von ihren früheren Idealen und Vorsätzen verabschieden. Man etabliert sich und nimmt die Dinge, die man sich einmal vorgenommen hat, nicht mehr so genau. Und wie schwer kann es werden, vor Mitbrüdern oder geistlichen Insidern eine Predigt oder einen geistlichen Vortrag zu halten! Fridolin Stier schreibt hierüber in seinem Text vom »Besuch des Wortes Gottes bei einem namhaften Bibelgelehrten, dessen Buch vom Wesen und Wirken des Wortes Gottes demnächst erscheinen sollte«. Der Text endet mit den Worten: 

Und da war wieder der Blick. 
Das Wort Gottes erhob sich und schritt zur Tür. 
»Was wollen Sie von mir?«, schrie der Professor ihm nach. 
»Sie will ich«, sagte das Wort Gottes, »Sie!«

Surin gibt zu bedenken: »Aber ein Älterwerden gegenüber dem Wort, ein allmähliches Bescheidwissen und mit dem Gewussten auskommen, eine Art technische Bewältigung (wie sie den Arbeitsmethoden des erwachsenen Menschen entspräche) an Stelle der immer neuen Überwältigung, des immer lenksamen Horchens, der immer neu aufflammenden und hinschmelzenden zärtlichhilflosen Liebe, des bewundernden Aufblicks zum vergötterten Lehrer und Meister: all das kommt christlich nicht vor.«[25] Es gilt also, und darin besteht die Kunst eines ganzheitlichen Lebensstils und eines geistlichen Umgangs mit den einzelnen Lebenszeiten, immer neu zu den Ursprüngen und Quellen des eigenen Daseins zurückzukehren, um in geistlicher Hinsicht »jung« zu bleiben. 

e) Die wahre Innigkeit

Eine weitere Weise, um den rechten Umgang mit der Zeit zu vertiefen, besteht darin, dass die Zeit recht »ausgenutzt« wird. »Carpe diem - Nutze die Zeit!«, und zwar so, dass sie in recht verstandener Weise ein Weg zu mehr »Intimität« im eigenen Leben wird. Dieses Wort steht zwar in vielen Kontexten, lässt sich jedoch nur schwer durch ein anderes ersetzen. Es meint Zuneigung, Spontaneität, Offenheit, Zärtlichkeit, Einfühlungsvermögen, Harmonie, Liebe, Glückseligkeit und gehört damit zu den geheimsten Sehnsüchten jedes Menschen. Es geht um die wahre »Innigkeit«: wenn Worte versagen, das Herz überfließt, es uns wohlig durch den Körper strömt, zwei Seelen ineinander fließen ... Die Grundangst beim Einsatz von »Intimität« und Innigkeit ist, dass wir zurückgestoßen werden, dass wir vielleicht verwundet werden können oder dass unser Einsatz unbeantwortet bleibt. Um dieses Risiko nicht eingehen zu müssen, meiden viele die innige Vertraulichkeit. Aber ohne ein gewisses Maß an Zuwendung kann keiner leben, und wenn dieses fehlt und nicht geschenkt wird, kommt es zur Unzufriedenheit mit all ihren Folgerscheinungen. Im Durchleben der Zeit sind wir immer wieder vor die Entscheidung gestellt, wie viel an Innigkeit wir einsetzen wollen. Entweder wir weichen vor Konflikten aus, sobald wir mit der Nähe zu einem oder mehreren Menschen nicht zurecht kommen und verlieren uns lieber in Tagträumereien (von trauten Beziehungen), was zur Folge hat, dass wir uns isolieren und schließlich zu Einzelgängern werden. Oder wir lenken unsere Angst vor zuviel Innigkeit und »Intimität« dadurch um, dass wir unsere Beziehungen ritualisieren: Wir sagen: »Guten Tag! Wie geht's? Schönes Wetter heute!« und verlagern uns auf die gängigen Themen: Sport, Mode, Tratsch, Autos; aber bald wird das ganze Beziehungsgeflecht langweilig und steril werden. Es gibt noch viele andere Ausweichmanöver im Umgehen des Einsatzes von Innigkeit und »Intimität«. Aber immer wieder werden wir während des Tages gefragt, wie wir die Zeit und ihren Anruf nutzen: bei Tisch, beim Essen, auf dem Gang, an einem geselligen Abend etc. Dies sind alles Situationen, in denen wir den Anruf des Augenblicks nutzen oder vorbeiziehen lassen können. Ein Leben wird umso intensiver und authentischer sein, je mehr es sich dem Anruf solcher Augenblicke im Einsatz wahrer Innigkeit stellt.


f) Die Trägheit der Zeit
Auch im Leben mit Gott gibt es einen solchen Anruf zu mehr Innigkeit, gerade in den Zeiten des Gebets und der Liturgie (wenn wir ihm nicht gleich ausweichen durch sogenannte »Zerstreuungen«, die eher ein Zeichen des mangelnden Interesses oder der fehlenden Aufmerksamkeit für den Anruf des Augenblicks sind). Doch kann es sein, dass es für den einzelnen im Ablauf seines Lebens immer schwieriger wird, sich dem konkreten Anruf Gottes in seinem Leben zu stellen, besonders wenn das geistliche Leben trockener wird. Steht am Anfang des Glaubenswegs meist die Erfahrung der Nähe und Gegenwart Gottes, so kann sich die Erfahrung seiner Anwesenheit später verdunkeln. 

Die Mönchsväter sprechen hier von der Krisenerfahrung der Akedia, die nach ihrer Meinung jeder geistlich lebende Mensch auf seinem Weg des Glaubens durchmacht.[26] Meist wurde der Begriff der Akedia nur mit »Trägheit« wiedergegeben, und zwar als Trägheit und Nachlassen in den geistlichen Übungen. Doch das Laster der Akedia beinhaltet mehr als nur das Phänomen der »Trägheit«; es handelt sich um eine fundamentale Krise, so dass der Glaube, das Gebet und das Durchhalten der eigenen Lebensweise sehr erschwert werden. Bei der Krisenerfahrung der Akedia geht es um keine vorübergehende Schwierigkeit im geistlichen Leben, sondern um eine Erfahrung von Trostlosigkeit und Verzweiflung, die lange anhalten kann und vielleicht zu einer Lebensentscheidung drängt, die alles in Frage stellt. Die Bedeutung der Akedia ist nicht zuletzt darin zu sehen, dass sie sogar eine grundsätzliche Abwendung von Gott nach sich ziehen kann. Der Mensch wird hart oder nachlässig in seiner Begegnung mit Gott, bzw. sein geistliches Leben erstarrt in oberflächlicher Routine und Gleichgültigkeit. Auch übertriebene Minderwertigkeitsgefühle können ein akediöses Phänomen sein, denn sie sind mit einer Werdeangst und Werdescheu verbunden, die den Menschen daran hindern, wirklich so groß und gut sein zu wollen, wie er ist; statt dessen gibt er - aus Angst vor dem Leben oder wegen einer Enttäuschung - die Eintrittskarte vorzeitig ab. Damit verbunden ist meist die Lebenshaltung der Langeweile, die der Akedia entspringt, wie auch Adam und Eva im Paradies aus Langeweile gesündigt haben sollen...
Es gilt also, immer wieder zu den ursprünglichen Erfahrungen, Idealen und Sehnsüchten des eigenen Lebens zurückzukehren, um im geistlichen Leben »jung« zu bleiben. Wie diese Rückkehr zu den eigenen Quellen geschehen kann, soll nun weiter bedacht werden.