5. Die Ordnung der Zeit

Ein geistlicher Umgang mit der eigenen Lebenszeit, so zeigte sich, setzt die Integration der unterschiedlichen Erfahrungen in den verschiedenen Lebensaltern voraus. Nur wenn der Lebensalltag mit seinem Reifungsprozess in das geistliche Leben integriert und je neu geordnet wird, kann das Leben mit Gott seine letzte Vollendung erfahren.

a) Sein Leben ordnen

Es bedarf eines Ordnungsprinzips, nach dem die diversen Er-Fahrungen in den unterschiedlichen Situationen des Lebenswegs integriert werden können. Um die Notwendigkeit eines solchen Ordnungsprinzips wussten schon die Mönchsväter der frühen Kirche. Sie gingen in die Einsamkeit, um sich dort der Herausforderung eines geistlichen Lebens zu stellen, denn sie erkannten, dass das Gebet nicht unter allen Bedingungen möglich oder gleich möglich ist. Wie aber kann jener, der mitten in der Welt leben muss, im Alltag den Weg des Gebets finden und einüben? 
Um im Gebet die Nähe Gottes zu erfahren, muss der Mensch zuerst seinen ganzen Lebensalltag vor Gott ordnen.[27] Für das Alltagsleben im Glauben ist es nicht gleichgültig, wie einer mit seinen Mitmenschen zusammenlebt, ob er sich dem Neid, dem Zorn, der Habsucht überlässt, ob er alles, was ihm auf die Zunge kommt, sagt. Es ist nicht gleichgültig, wie er schläft, wie er isst, wie er sich erholt. Vor allem gibt es ein Haupthindernis für die geistliche Ordnung des Lebensalltags aus dem Glauben, nämlich die Sünde; sie trennt von Gott und macht den Menschen blind für Gottes Willen und Anruf.
Aber wie kann ein Mensch mitten im Alltag mit allen seinen Verpflichtungen und Arbeiten für Gottes Ruf und Willen offen bleiben? Wer in allen Situationen des Lebens aus dem Wissen um die Gegenwart Gottes leben möchte, braucht nicht ständig an den Herrn zu denken und den Blick auf ihn zu lenken. Vielmehr muss er vieles tun, ohne dabei an Gott denken zu können, doch das heißt nicht, dass es ohne Gott getan wird. Das Leben in Gottes Gegenwart bleibt bestehen, auch wenn der ausdrückliche und unmittelbare Kontakt mit ihm verlassen wird, wie der Spruch einer bayerischen Wallfahrtskirche sagt: »Sag nicht 'Willkommen', wenn ich komme, noch 'Lebe wohl', wenn ich gehe, denn ich komme nicht erst, wenn ich komme, und gehe nimmer, wenn ich gehe.«

Ähnliche Gedanken finden sich auch in der ignatianischen Spiritualität.[28] Am 20. September 1548 erhält Franz Borja, der 1546 nach dem frühen Tod seiner Frau in die Gesellschaft Jesu eintreten wollte, aber vorher noch die familiären Angelegenheiten zu regeln hatte, von Ignatius einen Brief, in dem es heißt: »Ich möchte es für besser halten, insoweit ich mir über Eure Durchlaucht in unserem Herrn ein Urteil bilden kann, wenn Sie die Hälfte der Gebetszeit für das Studium [...] auf die Staatsgeschäfte oder für geistliche Gespräche verwenden. Denn ohne Zweifel ist mehr Tugend und Gnade darin, sich seines Herrn in verschiedenen Geschäften und an verschiedenen Orten freuen zu können, als eben nur an einem«, nämlich im Gebet.[29]

b) In allen Dingen

Der Beter soll nach Ignatius die Gegenwart Gottes in allen Dingen suchen und finden. Diese Art zu »betrachten« ist leichter, »als wenn wir uns zu geistlichen Gegenständen mehr abstrakter Art erheben wollten, in die wir uns doch nur mit Mühe hineinversetzen können.«[30] Ignatius sagt sogar, man könne und solle die Arbeit zu dem eigentlichen Gebet machen, »weil auch das Arbeiten ein Gebet ist.«[31] Gebet und Arbeit sind gemeinsam das eine geistliche Tun: »das Gebetsleben wird gepflegt in der Arbeit«[32], wie ein früher Gefährte des Ignatius sagt. Aber nicht nur das Gebet befruchtet die Arbeit, auch die Arbeit lässt das Gebet zu immer größerer Tiefe und Fruchtbarkeit wachsen: »So muss also unser Gebetsleben sein: dass es all unser Wirken leite, ehre, ihm innere Gottesfreude und Kraft gebe im Herrn. Unser Arbeiten aber soll das Beten wachsen lassen, ihm Kraft und heilige Frömmigkeit verleihen.«[33] Über das innere Verhältnis von Arbeit und Gebet schreibt Ignatius von Loyola: »Es wäre gut, er machte sich einmal klar, dass Gott sich des Menschen nicht nur dann bedient, wenn er betet; sonst wären allerdings alle Gebete zu kurz, wenn sie weniger als 24 Stunden am Tag dauerten...«[34]
Es fiele Ignatius nie ein, Zeiten des ausdrücklichen Gebets zu schmälern, denn er weiß um die Gefahr, unter der Last einer schweren Arbeit zu resignieren oder in bloße Betriebsamkeit und Hektik abzusinken. Das Gebet soll nicht verdrängt werden, wohl aber eine ganz besondere Gestalt annehmen, es soll darin münden, dass alles, was getan wird, in die Gottesbeziehung hineingenommen wie auch von ihr inspiriert und geprägt wird. 
Aufgrund der Gegenwart Gottes in allen Dingen des Lebens ergibt sich der geistliche Rat: Versenke all das, was du vor Gott bist, am Morgen in dein Herz und bleibe den ganzen Tag in der Gegenwart Gottes, bringe also die vielen Einzelerfahrungen und Stücke deines Wesens und Erlebens zur Einheit, indem du aus den vielfachen Einzelerfahrungen des Tags ein Ganzes erstehen lässt. 

c) Sakrament des Augenblicks

Der Augenblick ist das Tor zur Begegnung mit Gott, deshalb spricht J.P. de Caussade vom »Sakrament des Augenblicks«. Im christlichen Glauben kann vom Sakrament der Zeit gesprochen werden. In der quasi sakramentalen Bedeutung der Zeit liegt auch ihre Bedeutung für das Leben im Glauben begründet. Dies zeigt sich konkret nicht zuletzt in der Feier der Eucharistie und des Herrenjahrs: In ihnen kommt das zum Himmel aufgefahrene Wort zu den Menschen, das Ewige tritt in die Zeit ein, und die Zeit schreitet dem Ewigen entgegen. 
Die Ewigkeit ist weder vor noch nach der Zeit, sondern die Dimension, auf die sich die Zeit öffnen kann: Das wahre Finale ist nicht das Ende der Zeit, sondern das Pleroma der Zeit, die Fülle der Zeit.[35] Somit schwebt das Heute der vertikalen Heilszeit für immer im horizontalen Jetzt des Augenblicks. Gottes Zukunft bricht nicht erst als das große Abschlussfinale in die Zeit herein, sondern wird im kairos schon heute ergriffen (Hebr 3,7-4,7), wie es gerade in der Feier der Eucharistie, der Stundenliturgie und des Herrenjahrs auf einzigartige Weise geschieht. So lassen wir uns in der Lesehore jeden Morgen das Wort des Psalmisten gesagt sein: »Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet nicht euer Herz!« 
Deshalb lässt sich sagen, dass die Geheime Offenbarung die letztgültige Grundaussage über alle Zeit und jedes menschliche Leben enthält. Sie spricht nicht vom Ende, das erst kommen wird, sondern von dem Ende, das bereits begonnen hat.[36] »Die Zeit entrollt sich von der Zukunft in die Gegenwart«[37], was zugleich eine letzte »Relativierung« aller Zeit bedeutet: »Die Zukunft ist die Ursprungsdimension der Kontingenz jedes neuen Ereignisses, aber auch die Sphäre, von der wir das Ganzwerden des im Prozess der Zeit Unabgeschlossenen und Unvollendeten erhoffen.«[38]

Aus all dem ergibt sich ein spezifisch christlicher Umgang mit der Zeit. Sie ist für den Glaubenden nicht nur eine Abfolge von Daten und Terminen, sondern der wesentliche Ort der Begegnung mit Gott, den es in allen Dingen des Lebens zu suchen und zu finden gilt. In diesem Sinn kann sogar vom »Sakrament« des Augenblicks bzw. der Zeit gesprochen werden.

d) Ehrfurcht danach
Das Sakrament des Augenblicks ruft auch nach der glaubwürdigen Verinnerlichung der Zeit, die ohne die Haltung der Ehrfurcht vor den im Alltag gemachten Erfahrungen nicht gefunden werden kann. Hiervon scheint Nelly Sachs zu sprechen, wenn sie in einem ihrer Gedichte über eine solche Gotteserfahrung im Alltag eines Volkes schreibt:

Sinai

Du Truhe des Sternschlafs
aufgebrochen in der Nacht,
wo alle deine Schätze,
die versteinten Augen der Liebenden,
ihre Münder, Ohren, ihr verwestes Glück
in die Herrlichkeit gerieten.
Rauchend vor Erinnerung schlugst du aus
da die Hand der Ewigkeit deine Sanduhr wendete -
die Libelle im Bluteisenstein
ihre Schöpferstunde wusste -


Sinai
von deinem Gipfel
Moses trug
schrittweise abkühlend
den geöffneten Himmel
an seiner Stirn herab,
bis die im Schatten Harrenden
das unter dem schützenden Tuche Brodelnde
schauernd ertrugen -

Wo ist noch ein Abkömmling
aus der Erschauerten Nachfolge?
O so leuchte er auf
im Haufen der Erinnerungslosen,
Versteinten![39]

Moses begegnet auf dem Berg der göttlichen Nähe und ist in seinem ganzen Wesen erfüllt von der Gegenwart des Herrn. Aber werden die Menschen das, was er dort erfahren hat, ertragen? Er wird nun erleben müssen, dass sie noch nicht einmal die Widerspiegelung des Erfahrenen in seinem Antlitz ertragen. So hält er das Kostbarste, das er in seinem Leben je erhalten hat, in den Händen; es muss »abkühlen«, bis er selber es erträgt und es vielleicht die anderen erreicht. 

Diese Erfahrung des gotterfüllten Moses bedeutet für das Leben im Alltag eine große Herausforderung. Immer wieder wird uns Kostbares gewährt und anvertraut, wir tragen es in unseren Händen und dürfen uns fragen, was aus all dem wird. Die Erfahrung eines Gebets oder einer Heiligen Messe, die Kostbarkeit eines guten Wortes oder einer Predigt: All dies bedarf einer »Abkühlung«. So gibt es eine »Ehrfurcht danach«, das heißt, dass in Ehrfurcht nochmals »abkühlend« bedacht und betrachtet wird, was uns in einem Augenblick geschenkt wurde. Nur so werden wir den alltäglichen Schatz an Erfahrungen und Begegnungen mit Gott bewahren und für uns und die anderen fruchtbar machen und eines Tages ihnen weiterreichen können. Nicht was passiert, sondern was wir heraushören aus dem, was passiert, daran entscheidet sich, ob wir die täglichen Wunder unseres Lebens »ertragen« können. Der Apostel Paulus hat diese Ehrfurcht gelebt. Aus der Begegnung mit Christus wird ihm eine solche Wende zuteil, dass er in Ehrfurcht sein ganzes weiteres Leben ihr gerecht zu werden trachtet: »Was ich jetzt noch zu leben habe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat« (Gal 2,20).
Wenn diese Ehrfurcht unseren Umgang mit der Zeit bestimmt, wird alles viel wichtiger, neuer und aktueller. Alles gleicht dann einem kleinen Abenteuer im Glauben. Denn keiner weiß, was der nächste Augenblick bringt, aber alles entscheidet sich daran, wie wir mit dieser »wissenden Unwissenheit« in unserem Alltag umgehen: ob wir nämlich offen und wach bleiben für den nächsten Augenblick, in dem unsere Zeit Gottes Zeit und Gottes Zeit unsere Zeit zu werden vermag. Wir »wissen nicht den Tag und die Stunde«, deshalb steht alles in unserem Leben zwischen Ostern und Parusie unter den Zeichen des »Wachens«. Wir brauchen nicht zu wissen, was kommt, wissen wir doch, dass jener, der kommt, alles weiß. So legen wir die Zeit getrost in die Hände Gottes, denn was sie bringt, bringt Er.