6. Der Umgang mit der Zeit 

Der Mensch darf sich von dem sicheren Bewusstsein leiten lassen, dass zwischen Christus und ihm die größte Ähnlichkeit herrscht. Deshalb braucht der Mensch sich in der Zeit seines Lebens »nur« das anzueignen, was er in einem wenn auch bescheidenen Ausmaß bereits hat und kennt. Aus diesem Wissen erwächst aber auch die Verpflichtung, dass wir Tag für Tag derart überzeugend zu leben haben, »dass sowohl der Ursprung als auch das Ziel unseres Daseins etwas mit der Art und Weise zu tun haben, wie wir im Alltag denken, reden und handeln. Wenn meine tiefste Wahrheit die ist, dass ich von Gott geliebt bin, und wenn meine größte Freude und mein tiefster Friede daher kommen, dass ich voll aus dieser Wahrheit lebe, ist der logische Schluss, dass diese Wahrheit in der Art und Weise, wie ich esse und trinke, rede und liebe, spiele und arbeite, sichtbar und greifbar werden muss. Wenn die tiefsten Ströme meines Lebens keinerlei Einfluss mehr auf die Wellenbewegungen auf der Oberfläche haben, wird sich meine Vitalität womöglich im Sand verlaufen, und ich werde sogar mitten in meiner Betriebsamkeit voller Lustlosigkeit und Langeweile sein.«[40]

a) Ungeteilte Aufmerksamkeit

Damit uns ein solcher Lebensstil im Umgang mit der Zeit gelingt, bedarf es der Augenblicke des Innehaltens und der Innewerdung. Es braucht dabei keinen großen Aufwand, keine großen Gefühle und Gedanken,[41] auch ist es töricht, in einer solchen Zeit über Gott nachzudenken und dabei zu vergessen, dass man in seiner Gegenwart ist. »Wir sollten nicht zu Gott kommen in der Absicht, einen Reigen von Gefühlen zu durchlaufen oder eine mystische Erfahrung zu machen. Wir sollten zu Gott kommen, um in seiner Gegenwart zu sein.«[42] Wer betet, ist ungeteilt, indem er auf das achtet, was er mit Gott gemeinsam hat, um ihm begegnen zu können. Ein Grund dafür, dass vielen eine solche ungeteilte Zeit der Innewerdung nur selten gelingt, besteht darin, dass das Wissen um die augenblickliche Gegenwart Gottes zu wenig Gewicht in ihrem Lebensalltag hat. 

Vor allem geht es in solchen Zeiten der Innewerdung darum, dass der Mensch sich darüber Rechenschaft ablegt, ob er zum Eigentlichen seines Wesens vordringt und so innerlich wächst. Der Reifungsprozess menschlichen Lebens geht auf eine eher unmerkliche Weise vor sich. Es bedarf dazu keiner Belehrung oder Hinführung, denn das Leben kann nicht nachgeahmt oder von einem anderen kopiert werden.[42] Die Grundvoraussetzung für das Gelingen eines Reifungsprozesses ist, dass der einzelne sein eigenes Leben wirklich ernst nimmt. Ein Kind braucht dies noch nicht zu tun, es kann in den Tag hineinleben und sich dem Augenblick hingeben. Aber einmal muss sich ein Wandel vollziehen, ohne den kein Mensch erwachsen wird. Der Jugendliche kann die Aufforderung, das eigene und ihm aufgetragene Leben ernst zu nehmen, zunächst als das übliche Gerede der Erwachsenen abtun und sich davon emanzipieren. Doch eines Tages muss er sich zum Weg der eigenen Reifung entscheiden. In dieser Entscheidung ist jeder Mensch unvertretbar. Es wird nicht möglich sein, einen Menschen darin anzuleiten, wie er sein Leben ernst zu nehmen hat, vielmehr muss jeder für sich selbst den Schritt zu einem Leben aus der eigenen Mitte heraus tun.
Eine einheitliche Grundlinie erhält das Leben eines Menschen, sobald er die Fähigkeit entwickelt, sich immer weniger von den äußeren Bedingungen leiten zu lassen, bzw. wenn er lernt, sie in sein eigenes Wesen zu integrieren. Es bedarf einer eigenen Aktivität gegenüber allem, was dem Menschen zustößt und was von außen auf ihn einstürmt, um aus all dem das zu gestalten, was für ihn das Rechte ist; durch die Weise, wie er auf das, was von außen auf ihn eindringt, reagiert und wie er es schließlich aufgreift oder verwirft, wird sich zunehmend jenes ausbilden, was sein Eigenstes ist.

Der einzelne wird keine objektiven Kriterien zu Händen haben, die in den Augen der anderen oder auch in seinen eigenen jene Besonderheit seiner selbst rechtfertigen, aus der heraus er handelt und nicht so ist wie die anderen. Auch kann keiner einem anderen von außen das schenken, was das Wesentliche eines Lebens ausmacht, vielmehr muss jeder dies bei sich selbst entdecken. Dies gelingt nur, wenn der einzelne gelernt hat, in seinem Leben eine Linie zu verfolgen. Hat er einmal das Thema seines Denkens und Lebens gefunden, muss er alles andere weglassen, wenn es ihn von der eigenen Mitte abbringt; nur so geht sein Leben in die Tiefe. Wir müssen »alles Sinnleere und Seichte in uns und unseren Beziehungen zu den Mitmenschen ausrotten und uns jenen Dingen zukehren, die wir einst in die Ewigkeit mitnehmen können« . 
Um zur eigenen Mitte vorzudringen,[44] bedarf es auch der rechten Begegnung mit den anderen. Für sie ist ebenfalls der rechte Umgang mit der Zeit entscheidend. Metropolit Msgr. Anthony Bloom, der in jungen Jahren Chirurg war, schreibt hierüber: »Zu Beginn meiner Arzttätigkeit fand ich es unhöflich, die Leute im Warteraum lange warten zu lassen und zu lange Zeit für die Patienten im Sprechzimmer zu verwenden. Ich versuchte daher am ersten Tag, mit den Leuten im Sprechzimmer so schnell wie möglich fertig zu werden. Am Ende meiner Sprechstunde konnte ich mich nicht mehr im geringsten an die Leute erinnern, die ich gesehen hatte ... Ich nahm mir vor, mich so zu benehmen, als wäre der Patient, mit dem ich gerade zu tun hatte, der einzige, der auf der Welt existierte. Sobald mir der Gedanke kam, ich müsste mich eilen, setzte ich mich zurück und begann eine kurze Unterhaltung, nur um mich von der Hetze abzulenken. Nach zwei Tagen merkte ich, ich brauchte das nicht länger zu tun. Es genügt nämlich, sich völlig auf den Menschen oder die Aufgabe, mit der man zu tun hat, einzustellen, und wir nehmen wahr, dass wir im Vergleich zu früher nur die halbe Zeit gebraucht haben. Trotzdem hat man alles genau gesehen und aufgenommen.«[45]

Die gleiche Aufmerksamkeit muss der einzelne auch sich selber entgegenbringen. Es bedarf der täglichen Einübung in die Achtsamkeit. Für sie gilt die Weisung: »Geh an den Ort in deinem Herzen, an dem du ganz du selbst bist. Versuche, eine Zeit lang nichts zu tun, außer auf die Stimme zu hören, die tief im eigenen Herzen wohnt.« Es ist ein einfaches Verfahren: eine begrenzte Zeit, dann erbarmungslose Aufmerksamkeit mit kurzen, aber eindringlichen Worten, die häufig wiederholt werden; alles geleitet von dem Wissen, in der Gegenwart Gottes zu sein. 

Metropolit Anthony Bloom gibt hierzu folgende praktische Weisung: »Ich lege Ihnen eine Übung vor. Wir können sie anwenden, wenn wir absolut nichts zu tun haben, in Augenblicken, in denen uns nichts rückwärts- noch vorwärts zieht, in denen wir drei, fünf Minuten oder eine halbe Stunde für Muße und Nichtstun übrig haben. Ich setze mich und sage: 'Ich sitze hier und tue nichts. Ich werde jetzt fünf Minuten lang nichts tun.' Dann entspanne ich mich, und während dieser ganzen Zeit - am Anfang kann man es höchstens ein oder zwei Minuten so aushalten - stelle ich mir vor: 'Ich bin hier in der Gegenwart Gottes, in meiner eigenen Gegenwart und in der Gegenwart der Möbel, die mich umgeben. Ich bin ganz ruhig und bewege mich nicht.' ... Dann können wir die Minuten auch verlängern und die Zeit weiter ausdehnen. Natürlich wird die Zeit kommen, da wir Schutzmaßnahmen ergreifen müssen; denn man kann zwar zwei Minuten still dasitzen, auch wenn das Telefon schellt oder jemand an die Tür klopft. Aber fünfzehn Minuten sind schon eine zu lange Zeit, das Telefon schellen oder jemand vor der Tür stehen zu lassen. Dann müssten wir uns sagen: 'Wären wir jetzt nicht zu Hause, würden wir auch nicht die Tür öffnen oder das Telefon abnehmen.' Haben wir noch mehr Mut und sind wir von der Richtigkeit unseres Tuns überzeugt, dann müssen wir das machen, was mein Vater tat. Er hatte an seiner Tür einen Zettel angebracht mit der Mitteilung: 'Bemühen Sie sich nicht anzuklopfen. Ich bin zwar zu Hause, aber ich öffne die Tür nicht.' ... Zunächst entdecken wir, dass die Welt trotzdem weiterläuft und die ganze Welt fünf Minuten lang warten kann, ohne dass wir uns mit ihr beschäftigen ... Nehmen wir uns daher als erstes vor: 'Was auch immer jetzt geschehen mag - hier mache ich eine Pause.' Am einfachsten geht es, wenn wir einen Wecker benützen. Ziehen Sie ihn auf und sprechen Sie: 'Jetzt arbeite ich, ohne auf die Uhr zu sehen, bis er klingelt.' Wir müssen uns unbedingt abgewöhnen, dauernd auf die Uhr zu sehen ... Wenn der Wecker schellt, hört die Welt für uns fünf Minuten auf zu sein, und wir halten uns ganz still. Diese Zeit gehört nur Gott. Wir richten uns in seiner Zeit ein: ruhig, still, friedvoll.«[46] So wenden wir uns durch ungeteilte Aufmerksamkeit dem Ursprung und der Quelle unserer Zeit zu und erfahren Gottes Gegenwärtigkeit. 

b) Alles hat seine Zeit
Wer so die Zeit nutzt, um bei sich selber zu sein, findet immer mehr zur eigenen Identität und Authentizität vor Gott. Aber er wird auch offen für den Anruf des Augenblicks in der Begegnung mit den anderen. Auf eine solche Wachheit für das Gebot der Stunde kommt es im Umgang mit den Menschen an. Denn auch hier gibt es Zeiten, die sich nicht wiederholen und zurückholen lassen. Bei Ferdinand Ebner heißt es: »Das rechte Wort ist immer eines, das die Liebe spricht, und es wohnt ihm die Kraft inne, chinesische Mauern zu durchbrechen. Alles menschliche Unglück in der Welt rührt daher, dass die Menschen so selten das rechte Wort zu sprechen wissen.«[47]
So lernt der Mensch durch die Schule der Aufmerksamkeit und Wachheit, dass »alles seine Zeit hat« (Koh 3,1). Er wird nicht die Zeit, die andere von ihm erbitten, aufrechnen und mit ihr kalkulieren, sondern ohne Gegengabe weiterschenken. Eine solche verschenkte Zeit kann keiner zurückholen noch bezahlen oder finanziell ausgleichen, vielmehr bleibt sie »umsonst« geschenkt. Solche geschenkte und verschenkte Zeit ist ein Leben »im Stand der Gnade« und aus der »Fülle der Zeit«.

Das großzügige Verschenken der Zeit - gratis - kommt für den Glaubenden aus dem Wissen, dass er das Wichtigste an der Zeit selber geschenkt bekommen hat: Gott hütet die Zeit jedes Menschen wie seinen eigenen Augapfel. Bei der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft in die Heimat heißt es: »Zieht nicht weg in Hast, geht nicht fort in Eile; denn der Herr geht vor euch her, Israels Gott, und er beschließt auch euren Zug« (Jes 52,12).